Terraforming

© Mario Rembold; alle Rechte vorbehalten
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Leon blickte durch das zentimeterdicke Panzerglas in die Wüste aus Eis. Weit hinten am Horizont ragten die gigantischen feuerspuckenden Berge empor, die auf diese Entfernung überhaupt nur zu sehen waren, da sie dutzende Kilometer weit in den Himmel hinauf und damit über die Erdkrümmung hinweg ragten. Ihm und den restlichen Überlebenden blieben sicher noch ein paar Wochen, vielleicht sogar Monate oder Jahre. Doch im Prinzip waren die Tage der Menschheit gezählt. Bald würde nichts mehr auf diesem Planeten auf die Errungenschaften aus Kultur, Technik und Wissenschaft hindeuten. Damit nicht genug: Keine Spur irdischen Lebens würde zurückbleiben. Dieser Raketenstart war ein letzter Akt des Aufbäumens, der letzte verzweifelte Versuch, ein Testament, ein Vermächtnis im Universum zu hinterlassen. Leon war klar, dass wohl allen Sternensystemen der nahen Umgebung, wenn nicht der ganzen Galaxis, dasselbe Schicksal drohte, falls es sie nicht bereits ereilt hatte, und dass wohl niemand diese Sonde finden würde. Dennoch war er stolz darauf, wie sehr die Menschheit kämpfte und wie tapfer sie sich hielt. Noch.

Wie viele andere Wissenschaftler hatte auch Leon jahrelang davon geträumt, eines Tages einer außerirdischen Lebensform zu begegnen. Er wollte Zeuge sein, wenn die Menschheit Besuch bekäme und den ersten Kontakt aufnähme. Aber so hatte er sich das Aufeinandertreffen nicht vorgestellt. Selbst feindlich gesinnte Aliens müssten doch nach irgendwelchen Regeln kämpfen, die uns Menschen als höher entwickelten Wesen bekannt vorkämen. Wie Klingonen, die mit Laserkanonen schießen, oder übermächtige High-Tec-UFOs wie aus „Independence Day“. Nein, eine Invasion aus dem Weltraum dürfte die Menschheit nicht auf so demütigende Weise aus der Geschichte des Universums ausradieren. Wenn eine Lebensform schon in der Lage war, interstellare Distanzen zu überwinden, dann müsste doch irgendein tieferer Sinn hinter ihrem Besuch stecken!

Katie legte ihre Hand auf Leons Schulter, der noch immer in seinen Gedanken versunken war und die Bilder von draußen auf sich wirken ließ. „Es geht gleich los, die Arche ist bereit.“

Tag 0

Tag 0 war eigentlich gar nicht Tag 0, denn die ganze Sache musste wohl, wie man später rekonstruierte, mindestens einige Wochen an Vorlauf gehabt haben. Doch für Leon war es der Beginn vom Ende der Welt, der Anfang einer neuen Zeitrechnung. „Scheisse“, hörte er seinen Nachbarn schimpfen, dessen Auto nicht anspringen wollte. Merkwürdig, anscheinend hatte jeder in diesen Tagen Probleme mit seinem Fahrzeug. Leon hatte nicht viel Ahnung von Technik, ihm fielen lediglich diese schleimigen Fäden auf, als er seinem Nachbarn bei der Ölstandkontrolle über die Schulter schaute. „Was ist das?“, staunte er, „wer immer bei Dir den letzten Ölwechsel vorgenommen hat: das würde ich reklamieren!“ Als er eine halbe Stunde später seinen eigenen Wagen betankte, hingen die gleichen Strukturen vom Zapfhahn herab, als er diesen aus seiner Tanköffnung herausgezogen hatte. Eine auf den ersten Blick durchsichtige, bei genauerem Hinsehen bläulich schimmernde zähflüssige Substanz, deren Konsistenz an Honig erinnerte. Am Abend sollte Leon erfahren, dass auch der Tank seines Nachbarn diesem Schleim zum Opfer gefallen war. Obwohl der Wagen wenige Tage zuvor vollgetankt worden war, schien von dem Benzin nicht mehr viel übrig zu sein. Kein Wunder, dass der Wagen streikte.

Eine Palette Öl könnte verunreinigt sein, oder eine Lieferung Super, aber beides zusammen? Leon nahm eine Probe mit ins Labor und ahnte, dass auch sein PKW in Kürze den Geist aufgeben würde. Weder war er ein brillanter Wissenschaftler, noch der erste, dem diese Schleimfäden auffielen. Doch während die Raffinerie, die man als Ursprung des Phänomens ausfindig gemacht hatte, nach einem Produktionsfehler gesucht und eine einfache, langkettige Kohlenwasserstoffverbindung als Übeltäter vermutet hatte, war es Leon, dem als erster ein Licht aufging. Mit der Schnelldiagnose „Pilzbefall“ lag er zwar daneben, doch immerhin stimmte die Richtung. Ihm fiel auf, dass der Schleim sich anscheinend in Gegenwart öliger organischer Substanzen vermehrte. Seine Kollegen hatten für diese Erkenntnis zunächst nur Gelächter übrig, denn benzin- und ölfressende Parasiten waren nun mal alles andere als naheliegend. „Es gibt Mikroorganismen, die zum Abbau von Kohlenwasserstoffen fähig sind“, so sein Argument. Sicher, in dieser Form wäre das eine wissenschaftliche Sensation, oder eben eine riesige Blamage, falls er sich auf eine voreilige Publikation einließ. Doch Leon ignorierte seine Zweifel und zählte stur und konsequent Eins und Eins zusammen - offenbar tankte sein Nachbar Benzin, und offenbar war von diesem Benzin nach wenigen Tagen nicht mehr viel übrig. All das deutete auf eine Art Stoffwechsel und Reproduktion hin: Benzin verschwand, und Schleimfäden entstanden. Irgendetwas, so drängte es sich ihm auf, vermehrte sich im Tank und infizierte auch weitere Teile des Fahrzeugs. Alles, was Kohlenwasserstoffe enthielt, wurde verwertet.

Er wollte seine Theorie zum aktuellen Zeitpunkt noch nicht an die große Glocke hängen, konnte im Kreise seiner Kollegen und Bekannten aber nichts für sich behalten. Da sein Kumpel George bei einem lokalen Radiosender tätig war, machte das Gerücht des „Benzinfressers“ ganz entgegen Leons Willen schon am nächsten Tag die Runde und verbreitete sich schnell über die Stadtgrenzen hinaus. Die Fachwelt kritisierte ihn scharf, zumindest in den ersten zwei Wochen. Auch Leon war skeptisch, denn für ihn zählten am Ende nur harte Fakten, so reizvoll eine verrückte Theorie auch sein mochte. Das Problem war nur, dass eine Äußerung wie „Ich denke, es handelt sich um ein Lebewesen, doch das ist zur Zeit rein spekulativ und muss durch weitere Untersuchungen überprüft werden“ im Lokalblatt zu Schlagzeilen führte wie „Biologische Sensation: Junger Uni-Professor entdeckt völlig neue Spezies“. Noch war niemandem klar, dass der für diese Headline verantwortliche Journalist mit seiner Meldung ins Schwarze getroffen hatte.

Tag 5

„Das ist also alles, was es für einen Wissenschaftler mit Weltruhm braucht“, würde Leon nicht mal ein Jahr später voller Sarkasmus und Verbitterung feststellen. Doch momentan ahnte er noch nicht, dass er schon bald zum Stephen Hawking der Biologie aufsteigen sollte, alles nur dank einer voreiligen Berichterstattung.

Leon wertete sein „Hobbyexperiment“, wie er es nannte, aus. In seinen Pausen hatte er ein paar Reagenzgläser mit verschiedenen Flüssigkeiten gefüllt, darunter diverse Kohlenwasserstoffe sowie typische Nährmedien für Zellkulturen bis hin zu destilliertem Wasser. Zu jedem dieser Ansätze gab er geringe Mengen des blauen Schleims. Nun stellte er fest, dass der Schleim im Kontakt mit Kohlenwasserstoffen an Volumen und Masse zunahm, sich in wässriger Umgebung hingegen zurückbildete. Ihm war klar, dass die Vermehrung ein rein chemischer Prozess sein konnte, so wie sich ja gewissermaßen auch Asche im Feuer vermehrte, wenn man sie mit Holz fütterte. Ein im Schleim enthaltender Katalysator konnte einfach dazu führen, dass bestimmte Kohlenwasserstoffe irgendwelche langkettigen Moleküle bildeten und somit das Schleimvolumen vergrößerten.

Eindrucksvoll waren die Daten erst zusammen mit dem Blick durch das Mikroskop. Man sah zelluläre Strukturen, die an einfache Algen oder Pilze erinnerten. Es waren Einheiten mit einer festen Umhüllung, die sich teils fadenförmig aneinanderreihten, teils einzeln umherschwammen. Andere vereinigten sich zu pulsierenden Klumpen. Lichtmikroskopisch ließen sie sich gut beobachten, denn viele der Objekte waren größer als Pantoffeltierchen – im Reich der Einzeller wahre Riesen. Leon konnte sogar Teilungen filmen. Das waren keine leblosen Öltröpfchen sondern Lebewesen! „Cyanokrypten“, notierte er auf einem Zettel. Der Name, den er dieser neuen Spezies gab, sagte zwar nicht mehr aus, als dass sie blau und geheimnisvoll war, doch irgendwie klang er gut.

Nun wollte er seine Entdeckung taxonomisch dingfest machen. Wer waren die nächsten Verwandten dieser neuen Art? Leider brachte die DNA-Sequenzierung keinerlei Ergebnis, wofür Leon technische Probleme verantwortlich machte. Vielleicht ließ sich die DNA nicht mit den Standardverfahren isolieren, weil diese Zellen ihr Inneres besonders gut vor Chemikalien schützten. Er hatte jetzt gerade keine Zeit, sich weiter darum zu kümmern, fror einige Proben des Schleims weg und widmete sich wieder der Arbeit, für die er bezahlt wurde.

Tag 20

Zwischenzeitlich waren die Cyanokrypten und sein Entdecker vorübergehend aus den Medien verschwunden. Nachdem die betroffene Raffinerie bis auf weiteres stillgelegt wurde, schien sich das Problem in Luft aufgelöst zu haben. Jetzt aber traten neue Fälle auf, so dass Leon wieder Anrufe von Journalisten erhielt. Diesmal interessierte sich sogar die ausländische Presse für ihn, was auch der Institutsleitung nicht entging. So wurde Leons Arbeitsgruppe jetzt ganz offiziell mit dem Thema betraut. Er schrieb einen kleinen Artikel für ein Fachmagazin und beauftragte Diplomanden und Doktoranden mit einfachen Experimenten zum Thema. Vor allem wollte er endlich an die DNA kommen und herausfinden, um was für eine Lebensform es sich handelte. Die Proben, die er vor gut zwei Wochen eingefroren hatte, waren damit sofort vergriffen. Während er auf Nachschub wartete, fand er an seinem Arbeitsplatz noch ein Reagenzglas mit eingetrockneten Resten der Probe. Er kratzte ein wenig heraus und betrachtete sie unter dem Lichtmikroskop. Wie zu erwarten war, ließ sich nicht viel erkennen. Interessant waren lediglich ein paar kugelige, dickwandige Strukturen, die ihm in der Originalprobe nicht aufgefallen waren.

Leon war nicht überrascht, als neue Kolonien seiner Lebensform wuchsen, nachdem er die kapseligen Gebilde in Reagenzgläser mit dem Kohlenwasserstoff Heptan gab. Anscheinend handelte es sich um Sporen der Cyanokrypten; so etwas gab es bei vielen Bakterien, Pilzen und Algen. Zahlreiche Einzeller sowie einige primitive mehrzellige Organismen sicherten ihr Überleben, wenn der Lebensraum austrocknete, indem sie Dauerstadien bildeten, in denen der Stoffwechsel praktisch stillstand. Solche Sporen überdauerten Hitze, Kälte und Trockenheit, bis sie wieder in eine geeignete Umgebung gelangten und aufkeimen konnten.

Tag 28

Der Artikel aus einer meeresbiologischen Fachzeitschrift lag an diesem Morgen auf Leons Schreibtisch. Berichtet wurde über eine bislang unbeschriebene Alge im persischen Golf. Der Beitrag war nur eineinhalb Seiten lang. Neue Arten wurden jeden Tag entdeckt, und so schob Leon den Ausdruck beiseite, um sich seinen E-Mails zu widmen.

„Hast Du das gesehen?“, fragte Katie, als Leon ihr auf dem Flur über den Weg lief. „Was meinst Du?“, wunderte er sich. Katie arbeitete eigentlich an einer Doktorarbeit über Cytoskellett-Proteine und Membraninteraktionen. Da sie aus diesem Grund mit dem Elektronenmikroskop vertraut war, beauftragte Leon sie mit der Aufgabe, die Cyanokrypten und ihre Sporen detaillierter zu betrachten und fotografisch festzuhalten. „Ich habe einfach nach Artikeln der letzten Monate gesucht, in denen neue Arten beschrieben wurden. Ich stieß auf diesen Beitrag und...“ „Katie, nichts für ungut, aber da geht es um Algen.“ „Schon klar, Leon, diese Algen haben scheinbar nichts mit unserem neuen Gast im Labor gemeinsam. Außer, dass sich diese Dinger auch verkapseln, wenn man sie eintrocknet.“ „Aber solche Stadien sind doch bei einfachen Organismen nichts Besonderes!“ Katie schob ihrem Professor eine Reihe von elektronenmikroskopischen Aufnahmen zu. „Was hältst Du davon?“ Leon nahm sie mit Skepsis, aber durchaus interessiert in die Hand und schaute darüber. „Ich bin kein Experte auf dem Gebiet, aber die Oberfläche sieht sehr markant aus. Ich kann mich nicht erinnern, so etwas schon mal gesehen zu haben.“ „Unsere Meeresbiologen schon“, grinste Katie und deutete auf ein Foto im Artikel. „Verdammt noch mal!“, staunte Leon. „Unsere Cyanokrypten sind Algen!“

Nach einigem Überlegen klappte er die Zeitung zu und schüttelte den Kopf. „Das passt nicht zusammen, Katie, denn unsere Viecher überleben nur in der Umgebung von Kohlenwasserstoffen. Ganz am Anfang gab ich zu einigen Proben Leitungswasser und habe ein Reagenzglas sogar mit Seewasser aus unserem Aquarium im Foyer angesetzt – die Zellen haben sich nicht mehr vermehrt. Nach spätestens drei Tagen war der Schleim verschwunden.“ „Das kann viele Gründe haben; vielleicht stimmte der pH-Wert nicht, oder die Temperatur, oder...“ „Schon gut Katie! Eh du nachts nicht mehr schlafen kannst, nimm dir halt noch etwas von unserem Schleim und zweige dir ein paar Milliliter Seewasser ab.“

Tag 36

„Leon, das ist sensationell!“ Katie stürmte aufgeregt in Leons Zimmer. „Der Cyanokrypt als Benzinfresser stirbt in wässriger Umgebung, seine Sporen aber wachsen darin! Sie sehen dann aus wie die Algen, mit denen sie angeblich nichts gemeinsam haben! Mehr noch: Hättest Du ein wenig Geduld gehabt, wäre Dir aufgefallen, dass der Benzinfresser im Wasser zwar eingeht, aber vorher Sporen abgibt. Nach einer knappen Woche wachsen dann Algen darin! Und falls das noch immer nicht genug ist: Die Algen sterben ab, wenn ich sie in Öl werfe, aber sie produzieren Sporen, aus denen...“ „Aus denen dann wieder Benzinfresser schlüpfen“, ergänzte Leon, „Katie, das ist eine Sensation! Du bist ein Genie! Es wird Zeit, dass wir mit den Meeresbiologen Kontakt aufnehmen. Mal schauen, ob die unseren Befund bestätigen können.“ „Ich kümmere mich darum, Leon.“ „Nicht so schnell, schmier denen nicht gleich alles aufs Brot, was wir wissen. Das wird unsere Veröffentlichung. Wenn überhaupt, können die sich als Koautoren beteiligen!“

Tag 45

Niemals zuvor hatten Leon und sein Team so schnell hintereinander Paper in renommierten Fachzeitschriften veröffentlichen können. Eine Forschungsarbeit bestand normalerweise aus jahrelanger Kleinarbeit und viel Frust. Hier gab es nun aber etwas völlig neues zu entdecken. Da mittlerweile auch andere Wissenschaftler die Gunst der Stunde nutzten und dem Cyanokrypten auf der Spur waren, wurde plötzlich jede noch so triviale Kleinigkeit wichtig. Es ging um Tage, denn die Konkurrenz könnte in diesem Moment dasselbe Ergebnis auf ihrem Schreibtisch liegen haben. Eigentlich glichen die kurzen Artikel dieser Zeiten eher Pressemitteilungen als wissenschaftlichen Ausarbeitungen. Dennoch war die Nachfrage der Medien groß, wobei Leon stets im Mittelpunkt der Berichterstattung stand. Egal wie spektakulär die Beiträge und Erkenntnisse anderer Biologen und Chemiker zum Thema waren, Gewicht in der Öffentlichkeit bekam es erst, wenn Leons Arbeitsgruppe darüber berichtete oder die Befunde bestätigen konnte. Dies führte dazu, dass sich die Wissenschaftler weltweit darum rissen, Ihre Ergebnisse zusammen mit Leon zu veröffentlichen. Er, der Entdecker der Cynokrypten, musste als Autor in der Titelzeile stehen.

Doch nicht nur die Wissenschaft wurde auf Trab gehalten, denn die Cyanokrypten hatte vor allem zwei Dinge fest im Griff: die Börse und den Ölpreis. Es setzte eine regelrechte Panik ein, da kaum noch sauberes Mineralöl erhältlich war. Innerhalb weniger Wochen hatte sich eine primitive Lebensform über den gesamten Globus ausgebreitet und war im Begriff, Wirtschaftssysteme komplett zum Erliegen zu bringen.

Tag 52

Der Flugverkehr war praktisch lahmgelegt. Regierungen bunkerten sauberes Mineralöl unter besonderen Vorkehrungen. Auch Leons Labor war zu einem Hochsicherheitstrakt geworden. Die Sporen durften sich auf keinen Fall weiterverbreiten, alle Arbeiten hatten unter strengsten Vorsichtsmaßnahmen zu erfolgen.

Leon behielt gerne Recht, doch diesmal hoffte er aus tiefstem Herzen, sich zu irren. Die Tatsache, dass die Sporen praktisch in jeder flüssigen Umgebung wuchsen, bereitete ihm Sorge. Anscheinend war es vollkommen egal, ob man die Sporen in Öl, Benzin, konzentrierten Alkohol, Salz- oder Süßwasser gab. Immer keimten sie auf, solange auch nur die geringste Spur einer Kohlenstoffquelle vorhanden war. Anscheinend waren die Cyanokrypten perfekt an die jeweilige Umgebung angepasst. Während sie in altem Maschinenöl von den Kohlenwasserstoffen zehrten, bildeten sie im Wasser unter Lichteinfluss einen grünen Farbstoff aus und betreiben offenbar eine Art Photosynthese. Was würde nun geschehen, wenn eine Spore nicht in Benzin oder Wasser, sondern in der Blutbahn eines Menschen zum Leben erwacht?

Und was sie geradezu unheimlich machte: Keiner Forschergruppe war es bislang gelungen, bei der neuen Spezies Proteine oder Nukleinsäuren nachzuweisen. Sie schienen keine DNA zu besitzen, keinen genetischen Code. Es war, als handele es sich um eine Lebensform, die nichts mit dem irdischen Leben zu tun hatte.

„Sie kamen aus heiterem Himmel“, stellte Leon fest und meinte es wörtlich. Hätte es eine solche Lebensform, die an jedes denkbare Biotop angepasst ist, zuvor auf der Erde gegeben – der Planet müsste wimmeln von diesen Organismen. Natürlich erhoben sich in der Fachwelt viele kritische Stimmen zu Leons gewagter Hypothese, doch hatte er mittlerweile so viel Ansehen in der Öffentlichkeit, dass ihn niemand mehr belächelt hätte. Und so lautete die Schlagzeile des Folgetages: „Aliens legen die Wirtschaft lahm!“

Tag 104

Aktueller Stand der Dinge war folgender: Anscheinend waren die Cyanokrypten zuerst im Persischen Golf aufgetreten. Möglicherweise waren Sporen in leere Öltanker geraten, die ihre Ladetanks mit Seewasser reinigten. Der Organismus war offenbar in der Lage, sämtliche Kohlenstoffverbindungen zu verwerten. Besonders rasch wuchs er in Umgebung flüssiger Kohlenwasserstoffe, weshalb er zunächst als „Benzinfresser“ in Erscheinung getreten war. Die Cyanokrypten bildeten dort, wo sie in hoher Dichte vorkamen und ungestört wachsen konnten, kolonienartige Verbände, die an Korallen erinnerten. Sie sonderten harte Materialien ab und bildeten so neue Strukturen, die man bislang nicht erklären konnte. Das Phänomen wurde zuerst an ölbelasteten Stränden beobachtet, später auch in Binnengewässern.

Eine europäische Forschergruppe fand heraus, dass die Erbinformation der Lebensform in Form komplexer Kohlenwasserstoffmoleküle in der Zellmembran gespeichert war. Die Sporen wiederum waren mit diesen Molekülen vollgepackt und von einer resistenten Schutzhülle aus Polymeren umgeben; sie akkumulierten schwere Metallatome, insbesondere Blei, in dieser Hülle. Die Sporen waren dadurch unempfindlich gegen UV-Licht und sogar hohe Dosen von Gammastrahlung. Bestimmte Umgebungsparameter waren in der Lage, die Sporen zu aktivieren. Anscheinend wurde in Abhängigkeit vom Umgebungsmedium ein passendes Entwicklungsprogramm aufgerufen, das – einmal gestartet – nicht mehr geändert werden konnte. Änderte sich das Umgebungsmedium etwa von Öl in Wasser, so blieb dem Organismus nur noch die Möglichkeit, vor seinem Ableben möglichst viele Sporen freizusetzen.

Leons Arbeitsgruppe konnte zeigen, dass das Immunsystem von Ratten nicht auf die Sporen reagierte. Gerieten sie in die Blutbahn, verstarben die Versuchstiere innerhalb weniger Stunden und wurden regelrecht von innen heraus aufgefressen. Dennoch warnten Experten vor einer Panik, denn offenbar sei es praktisch unmöglich, die Sporen ohne weiteres in die Blutbahn zu bekommen. Und dann, nur dann stelle der fremde Organismus ein Gesundheitsrisiko dar.

Tag 110

Heute wurden die ersten Todesfälle beim Menschen bekannt, die auf eine Cyanokrypten-Infektion zurückzuführen waren. Die Medien gaben dem „Benzinfresser“ einen neuen Namen, der an schlechte Horrorfilme erinnerte: „Killerschleim aus dem Weltraum“. Fast zeitgleich mit diesen Meldungen wurden besagte Sporen in Gesteinsproben nachgewiesen, die chinesische Astronauten vierzehn Monate zuvor vom Mond mitgebracht hatte. Die Landung der Chinesen im Mare Tranquillitatis hatte vor allem Symbolcharakter, war es doch der Ort, an dem 1969 der erste Mensch den Erdtrabanten betreten hatte. Jetzt aber konnte man die älteren Gesteinsproben der Apollo-11-Mission zum Vergleich heranziehen und stellte fest, dass damals noch keine Sporen auf dem Mond zu finden waren.

Somit galt es fortan als erwiesen: Die Erde und vermutlich das gesamte Sonnensystem waren irgendwann nach 1969 von einer Sporenwolke getroffen worden, die durchs All flog. Offen blieben ihr Ursprung und die Frage, wie eine solch primitive Lebensform ins Weltall gelangen konnte.

Tag 190

Es herrschte weltweiter Ausnahmezustand. Die letzten Ölvorräte und ausgewählte Personen wurden in sicheren Bunkern untergebracht und waren vom Rest der Welt praktisch abgeschnitten. Die Weltbevölkerung war Schätzungen zu Folge auf ein Zehntel reduziert.

Wie ein Schimmelpilz eine Scheibe Brot zersetzt, so fraßen sich Cyanokrypten durch den Planeten. Sie verwerteten weit mehr organisches Material, als sie zum Überleben benötigten, denn in erster Linie produzierte die Lebensform diese rätselhaften korallenartigen Gebilde. Mittlerweile breitete sie sich auch an Land aus, offenbar vor Austrocknung geschützt durch kunststoffartige Absonderungen. Bemerkenswert war zudem, dass die mittlerweile riesigen Kolonien anscheinend nicht aus gleichartigen Zellen bestanden, sondern aus unterschiedlichen Geweben, die jeweils eigene Aufgaben erfüllten. Kilometerlange Transportsysteme zur Versorgung mit Nährstoffen wuchsen unter der Erde und im Meer. Das Entwicklungsprogramm der Lebensform war also komplexer als zunächst gedacht. Man vermutete, dass der Kontakt zu anderen Zellen unter bestimmten Bedingungen zu Differenzierungsprozessen führte.

Die Lebensform war jetzt in der Lage, Mineralien und Gesteine zu zersetzen und in eigenen Strukturen zu verwerten. Stellenweise wuchsen die Korallengebilde als Berge in unglaublicher Geschwindigkeit von mehreren Metern pro Stunde aus dem Boden, auch an Land. Die Berge verjüngten sich nach oben hin und ragten wenige Wochen später als gigantische Türme senkrecht in den Himmel. Zu diesem Zeitpunkt hatte noch niemand eine Erklärung für dieses unheimliche Phänomen.

Tag 312

Leon drehte sich wieder vom Fenster fort und schaute zu Katie hinüber. Beide hatten Freunde und Familien verloren, die nicht zum elitären Kreis der „Auserwählten“ gezählt hatten. Eine Ironie des Schicksals: Auch George, der voreilige Radiomoderator aus Leons Bekanntenkreis, war vermutlich tot. Ihm verdankten er und Katie das Überleben, denn nur durch ihn war Leon mehr oder weniger zufällig zum Popstar der Biologie geworden. Andernfalls hätte früher oder später ein anderer Biologe oder Biochemiker das Offensichtliche entdeckt und publik gemacht.

Die Pole der Erde waren die einzigen Bereiche, in die das alles zersetzende Geflecht noch nicht vorgedrungen war. Doch auch diese letzte Festung würde fallen, denn die Cyanokrypten agierten hier, aufgrund niedriger Temperaturen, lediglich langsamer. Schon vor Monaten hatten Messungen eine Abnahme des Luftdrucks ergeben, doch auch Leon hatte zunächst keine Erklärung dafür gehabt. Offenbar absorbierte das Geflecht Gasmoleküle und speicherte diese, so ließen es radar- und infrarotgestützte Satellitenbilder vermuten, in gigantischen unterirdischen Reservoirs. Der zunächst scheinbar harmlose Schleim hatte jetzt fast den gesamten Planeten eingenommen. Er differenzierte sich zu komplexen Strukturen aus, die ihn wie einen zwar primitiven, aber extrem gut angepassten Superorganismus erscheinen ließen, der sich sein eigenes Ökosystem erschuf.

Nichts deutete darauf hin, dass diese Lebensform irgendeine Art von Bewusstsein oder Intelligenz besaß. Zwar gab es vereinzelt Spekulationen, das unter der Erdoberfläche gewachsene Transportsystem aus Kanälen müsse irgendeine Funktion haben, die eine intelligente Lebensform geplant habe, doch kannte man aus der Entwicklungsbiologie ähnlich komplexe Musterbildungsprozesse, die auch in sehr einfachen Lebensformen abliefen.

Rätselhaft war, dass weitere riesige unterirdische Reservoirs entstanden, in denen hochexplosive Substanzen in gigantischen Mengen gespeichert wurden. Die Funktion war zunächst völlig unklar und ließ neue Mutmaßungen über eine Intelligenz aufflammen, die hinter dem Wirken dieser Lebensform stehen sollte. Möglicherweise würde die Erde zur Erzeugung von Rohstoffen verwendet, so eine Hypothese. Eines Tages würde vielleicht ein Raumschiff landen, um die Produkte zu ernten.

Es war wohl die menschliche Eitelkeit, die nach solch einem tieferen Sinn suchte. Wenn schon, dann wollte man doch von einer weit fortgeschrittenen Zivilisation vom eigenen Planeten verdrängt werden. Dabei wurde die nächstliegende aller Möglichkeiten völlig außer Acht gelassen, nämlich dass der außerirdische Organismus einfach nur das tat, was jede gut angepasste Lebensform tut: sich vermehren und ausbreiten. Die Vernichtung der Menschheit war eine furchtbare Tatsache. Unerträglich wurde sie aber erst dadurch, dass eine primitive Lebensform daran schuld sein sollte, die den Planeten in ihrem Sinne umgestaltete und das in Jahrmilliarden herangewachsene Ökosystem mit all seiner Artenvielfalt inklusive seiner selbsternannten Krone der Schöpfung nebenbei einfach ausradierte. Da wäre es wohl leichter zu verkraften gewesen, einer hochentwickelten Intelligenz zum Opfer zu fallen, mit der man vielleicht noch in Verhandlung hätte treten können.

Erst als die ersten Feuerfontänen aus den merkwürdigen turmförmigen Bergen in den Himmel schossen, fiel es Leon wie Schuppen von den Augen. All diese majestätischen Strukturen dienten lediglich der Ausbreitung der Cyanokrypten. Sie hatten zunächst die lästige Lufthülle der Erde weitestgehend entfernt, um jetzt ihre Sporen aus den hohen Türmen heraus ins Weltall blasen zu können. Die unterirdischen Reservoirs speicherten den Treibstoff dafür, der mit dem aus der Luft isolierten Sauerstoff zusammen geleitet und zur Explosion gebracht wurde. Die Türme würden zehntausende, vielleicht sogar Millionen Jahre lang brennen, da die Außerirdischen ihren Brennstoff über die Aufnahme von Sonnenenergie und ihre Fähigkeit zur Photosynthese stets regenerieren konnten. Die meisten Sporen würden gleich zu Beginn verglühen oder zurück auf die Erde fallen, doch ein winziger Teil könnte es bis in ferne Sonnensysteme schaffen. Und wenn Planet Erde nur lange genug Sporen ins All schoss, dann würde dieses unwahrscheinliche Ereignis früher oder später auch eintreten: Eine Spore von der Erde fiele in einem anderen Sonnensystem auf fruchtbaren Boden.

Die weitere Erforschung des Eindringlings war in diesen Tagen schwer bis unmöglich, denn die Menschheit lebte mittlerweile isoliert und konnte nur eingeschränkt mit Hilfe von Robotern und noch in der Umlaufbahn befindlichen Satelliten neue Daten erfassen. Dennoch wurde erst jetzt der letzte Beweis für eine außerirdische Invasion geliefert. Die Erde war durch die Feuerfontänen von einer Gaswolke umgeben, die zusammen mit dem Sonnenlicht ein charakteristisches Spektrum erzeugte, das man auch bei einer handvoll benachbarter Sterne beobachtet hatte, aber bislang nicht erklären konnte.

Eigentlich war es einfach Pech, dass die Erde ausgerechnet jetzt von den Sporen getroffen worden war. Sie mussten zehntausende Jahre oder länger im Interstellaren Raum unterwegs gewesen sein, nur wenige dürften überhaupt noch intakt sein, wenn sie ihr Ziel erreichen. Doch ein einziger funktionsfähiger Eindringling, der die Erdoberfläche erreicht hatte, konnte für diese Katastrophe ausreichend gewesen sein. Die Menschheit war mit ihrem Planeten einfach zur falschen Zeit am falschen Ort. Und auf lange Sicht würden es ohnehin die Cyanokrypten sein, die in der Galaxis die Oberhand gewännen. Egal, wie intelligent und kulturell hochentwickelt eine Zivilisation sein mochte – diese Lebensform war stets besser angepasst und würde sich jeden belebten Planeten innerhalb weniger Monate untertan machen. Der Mensch war die Krone der Schöpfung auf diesem Planeten. Doch die Cyanokrypten waren die Herrscher des Universums!

Leon nahm Katie an die Hand. Sie begaben sich in den Saal mit der riesigen Leinwand, um in Kürze den Start der Arche mitzuverfolgen. Eine Raumkapsel, vollgepackt mit tiefgefrorenen Zellproben. So viele Spezies wie möglich sollten vertreten sein, und natürlich durfte auch der stolze Homo sapiens nicht fehlen. Immerhin gab es eine geringe Hoffnung, dass irgendwer da draußen diese Zellen zum Leben erweckte. Die Chancen standen schlecht, doch sie waren immerhin größer als Null. Ein Bleimantel sollte Schutz vor der kosmischen Strahlung bieten. Dann hob das letzte Raumfahrzeug der Menschheit in den Himmel ab – als Zeugnis, dass es in diesem Sonnensystem vor langer Zeit einmal andere Lebensformen als die Cyanokrypten gegeben hatte.

∗Ende∗



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