Marla und die Zeit

© Mario Rembold; veröffentlicht am 19.09.2023

»Die Zeit. Wir alle sind ihre Gefangenen. Zeit. Sich Zeit nehmen. Wofür? Um der Zeit noch mehr Gelegenheit zu geben, an uns zu nagen? Uns zu zerstören? Der zweite Hauptsatz der Thermodynamik besagt unterm Strich: Die Zeit hat eine Richtung, und ihr Pfeil zeigt dorthin, wo wir alle im Arsch sind!

Warum also wird die Zeit so romantisiert? Zeit ist Geld. Zeit ist wertvoll. Nein! Zeit vernichtet! Wir verharmlosen die Zeit, kuscheln mit ihr. Das nennt man Stockholm-Syndrom! Ich sage: Wehrt euch! Haltet die Zeit heraus aus eurem Leben! Sie ist kein Freund, sie ist euer Vernichter!«

Marla hatte sich nicht allzu viel gedacht bei diesen Worten. Sie kamen einfach so, tief aus ihrem Herzen sprudelten sie durch ihre Stimmbänder und flossen über die Lippen. Dass sie dabei live war auf Instagram, hatte sie vergessen. Wie jedes Mal, wenn sie ihren Followern ihre Gedanken zur Nacht mitteilte. Dieses Unmittelbare, Authentische und Unzensierte war genau das, wofür die Fans sie bewunderten. Und wie immer nach ihren „Gedanken zur Nacht“ versetzte sie das Smartphone gleich darauf in den Flugmodus und schlief ein.

Am nächsten Morgen waren es weder die Twittertrends noch die Diskussionen im Frühstücksfernsehen, die sie kalt erwischten – ihr Management kam alldem zuvor. Kaum war ihr Smartphone wieder auf Empfang, sah sie die verpassten Anrufe. Und noch bevor sie zurückrufen konnte, klingelte es.

»Du weißt ja, wir sind auf die Sponsoren angewiesen. Das gestern war wirklich nicht gut, Marla!« »Was meinst du?«, fragte sie. »Na komm, tu nicht so, als wärest du die letzten acht Stunden offline gewesen!« Marla verdrehte die Augen: »Ich war die letzten acht Stunden offline. Das nennt man Schlaf!«

Sie brauchte den ganzen Vormittag, um wirklich zu checken, was passiert war: Opferverbände hatten sich über die Verwendung des Begriffs „Stockholm-Syndrom“ empört. Damit verharmlose sie das Leid jener Menschen, die von Gewaltverbrechen betroffen sind. Hashtags hierzu machten die Runde. Fazit: Marla war nicht länger tragbar.

Jan Böhmermann hatte sich bereits eingeschaltet. Seine Redaktion suchte weiteres belastendes Material und, so erfuhr Marla, hatte bereits ihre Eltern, ihren Bruder und ehemalige Lehrer kontaktiert. »Hätte ich stattdessen doch einfach nur einen Despoten beleidigt und eine Kanzlerin in Erklärungsnot gebracht«, seufzte Marla erschöpft in den Spiegel.

Als nächstes trendete Richard David Precht in den sozialen Netzwerken. Er hatte in einem Interview mit dem Deutschlandfunk die öffentlichen Reaktionen auf Marlas Livestream als „völlig aus dem Ruder gelaufen“ kritisiert und von einem „selbstherrlichen pseudomoralischen Mob“ gesprochen. Das ZDF gab kurz darauf bekannt, den Podcast „Lanz & Precht“ einzustellen.

Noch am Abend desselben Tages distanzierte sich Markus Lanz per Pressemitteilung von Precht. Diese Erklärung komme zu spät und zu halbherzig, urteilte die Twitter-Community. Trotzdem stellte sich der Sender zunächst hinter Lanz. Dank Campact aber wurde auch seine abendliche Talkshow drei Wochen später aus dem Programm genommen.

Marla indes dachte nach über ihre Wut auf die Vergänglichkeit. Stockholm-Syndrom hin oder her: Vielleicht, so überlegte sie, sollten wir uns doch mit ihr arrangieren, der Zeit. Vielleicht sollten wir alle viel öfter durchatmen und uns ein kleines bisschen mehr von ihr nehmen.

∗Ende∗

Die Erstfassung dieses Textes entstand am 23.08.2023 bei einer Kreativübung in der Schreibwerkstatt Köln.

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