Ein Winter in Schlichtstadt

© Mario Rembold; alle Rechte vorbehalten
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Schlichtstadt war eine ganz normale Stadt. Nicht besonders groß, aber auch nicht besonders klein. Dasselbe galt auch für die Bürger von Schlichtstadt. Niemand tanzte wirklich aus der Reihe, denn Schlichtstädter waren einfach ganz normal und liebten ihre Ordnung.

In Schlichtstadt gab es für alles ein Verfahren. Genehmigungen mussten erteilt und Dienstwege eingehalten werden. Es gab zwar wachsame Polizisten, strebsame Sachverständige und Personal, das nach falsch geparkten Autos Ausschau hielt, doch all diese Leute hatten nur wenig zu tun. Man hielt sich ja an die Regeln. Bis zu jenem Winter...

Es war das Jahr, in dem erstmals die Mysteriöse Seuche aufgetreten war. Sie hatte immer mehr Schlichtstädter befallen und führte zu wirklich sehr unangenehmen Symptomen. Doch nicht die Mysteriöse Seuche war es, die Schlichtstadt aus der Bahn warf. Es gab ja schließlich Ärzte, die den Krankheitsverlauf dokumentierten. Eine Heilung war zwar nicht möglich, doch in Zusammenarbeit mit dem örtlichen Gesundheitsamt wurden Protokolle und Vorschriften zum Umgang mit der Epidemie erarbeitet. Man gründete Gremien und hatte Meldepflichten einzuhalten – die Mysteriöse Seuche verlief also trotz aller Unannehmlichkeiten in einem geordneten Rahmen. Nein, das Problem befiel Schlichtstadt auf eine ganz andere Weise: Es war der Fremde.

Der Fremde

Der Fremde betrat die Stadt im Dezember und bat den Gemüsehändler um eine einzelne Kartoffel. Nein, einzeln verkaufe man diese nicht, er könne höchstens einen ganzen Sack bekommen. Der Fremde betonte, er wolle die Kartoffel ja gar nicht kaufen, sondern geschenkt bekommen. Er habe schließlich gar kein Geld. Alternativ könne er etwas zum Tauschen anbieten. Umgehend wurde der Fremde daraufhin des Ladens verwiesen und die örtliche Polizei eingeschaltet, um den unerhörten Vorfall aufzunehmen. Der Fremde ging daraufhin selbst auf Nahrungssuche.

Die beiden Polizeibeamten fanden den Fremden schließlich auf einer Verkehrsinsel vor. Er baute sich einen Zaun aus Gegenständen, die er sich aus Mülleimern zusammengesammelt hatte, und aß währenddessen von den angepflanzten Sträuchern.

»Was tun Sie da?«
»Ich grenze mein Grundstück ab, auf dem ich künftig leben will. Ich habe gesehen, dass man das hier so macht. Möchten Sie auch einen Zweig essen?«
»Können Sie sich ausweisen?«
»Wie bitte?«
»Haben Sie einen Ausweis dabei?«
»Was ist ein Ausweis?«

Eine halbe Stunde später fand sich der Fremde auf dem Revier wieder. Die Polizisten waren recht verzweifelt, da der Fremde auf keine ihrer Fragen zufriedenstellend antwortete. Weder schien er auf einen Namen zu hören, noch führte er irgendwelche Dokumente mit sich, die auf seine Identität schließen ließen. Alles, was er bei sich hatte, war die verlotterte alte Kleidung, die er am Leib trug und die er sich nach eigenen Angaben ertauscht hatte. Man protokollierte den Vorfall, fotografierte den Fremden und brachte ihn vorerst in einer Zelle unter.

»Ihr Abendessen, Herr... wie immer Sie heißen mögen«
Der Polizist reichte ihm eine Plastikschüssel mit Mikrowellenkost in die Zelle.
»Möchten Sie die Speise gegen etwas tauschen, oder handelt es sich um ein Geschenk?«
Der Polizist lachte. »Was wollen Sie mir denn zum Tausch anbieten?«
»Was fehlt Ihnen denn?«
»Zeit mit meiner Familie, das fehlt mir!«
»Aber Zeit haben Sie doch bereits, es liegt in Ihrer Macht, über sie zu entscheiden.«
»So so, ein Philosoph in Lumpen, das hat mir noch gefehlt für meine Nachtschicht.«
»Etwas anderes?«
»Wie bitte?«
»Suchen Sie sich etwas anderes aus!«
»Wenn das so ist, dann hätte ich gerne einen edlen brandneuen Ferrari. Und wo wir dabei sind, heilen Sie diese Stadt doch bitte von der Mysteriösen Seuche!«
»In Ordnung. Ich danke Ihnen für Ihre Gastfreundschaft. Ich möchte keineswegs unhöflich erscheinen, doch in Ihrer Unterkunft gefällt es mir nicht. Ich liebe den Blick auf den freien Himmel. Ich hoffe, Sie fühlen sich nicht beleidigt, wenn ich Sie nach dem Essen verlasse.«
»Der freie Himmel, mein Lieber, würde Sie heute Nacht mit Sicherheit umbringen. Es sind minus 17 Grad vorausgesagt! Außerdem müssen wir noch Ihre Personalien feststellen. Ich kann Sie also nicht gehen lassen, selbst wenn ich wollte.«
»Das ist auch nicht notwendig. Vielen Dank für die Mahlzeit!«

Am nächsten Morgen fand man die Zelle leer vor. Niemand hatte eine Erklärung dafür, wie der Fremde hatte entkommen können. Auf dem Überwachungsvideo wirkte es, als wäre er durch die Wand gegangen, doch das war ja unmöglich. Unmöglich erschien somit auch die Aufgabe, einen sinnvollen Bericht zu verfassen, obwohl dies ja unbedingt erforderlich war. Man schrieb den Fremden zur Fahndung aus und ließ nebenbei den knallroten Sportwagen abschleppen, der die Einfahrt zum Polizeirevier blockierte. »Ich habe es zweimal nachgeprüft, der Wagen ist auf dich registriert!«, bekam der nachtdiensthabende Beamte von seinem Kollegen zu hören. An diesem Tag war „der Fremde auf der Flucht“ Gesprächsthema Nummer Eins in Schlichtstadt. In einer Randnotiz erwähnte die Lokalzeitung außerdem, dass praktisch über Nacht die unter der Mysteriösen Seuche Leidenden – und das waren mittlerweile fast alle Schlichtstädter – geheilt waren. Beim Gesundheitsamt löste diese Meldung rege Unruhe aus. Was war nun mit den gegründeten Konsortien, Arbeitsgruppen und Kompetenzteams? Würde das plötzliche Verschwinden der Mysteriösen Seuche letztlich gar Arbeitsplätze kosten?

Die Lichtung

Der Fremde hatte sich im angrenzenden Waldstück eine Lichtung gesucht und eingezäunt. Hubschrauber hatten ihn ausfindig gemacht, so dass die Lichtung kurze Zeit später von Polizeikräften gesichert war. »Kommen Sie mit erhobenen Händen raus, Sie sind umstellt!«, erklang es durch ein Megaphon. »Aber ich bin doch draußen! Wissen Sie, unter freiem Himmel geht es mir am besten!«

Der Fremde ignorierte alle weiteren Versuche der Polizei, ihn zum Aufgeben zu überreden. »Ich weiß nicht, was Sie von mir wollen, und auch nicht, was Sie mit „aufgeben“ meinen«, hatte er noch verlauten lassen und sich dann schlafen gelegt. Die Polizei beschloss, die Lichtung zu stürmen. Hierzu waren einige Telefonate und Anträge notwendig, die jedoch ausnahmsweise später in schriftlicher Form nachgereicht werden konnten. Die außergewöhnliche Bedrohung Schlichtstadts erforderte außergewöhnliche Maßnahmen.

Drei Polizisten kletterten über den Zaun und fanden sich genau auf der anderen Seite der Lichtung wieder. Das war doch unmöglich! Sie versuchten es erneut. Ein Bagger wurde herangeschafft, um den Zaun zu durchbrechen, doch er schien vor dem Zaun zu verschwinden und kam auf der gegenüberliegenden Seite hinter dem Zaun wieder zum Vorschein. Es war nicht möglich, zu dem Fremden vorzudringen. Der Hubschrauber konnte ebenfalls nicht landen. Es sei, so gab der Pilot später zu Protokoll, als drücke eine unsichtbare Hand das Fluggerät nach oben.

Dies stellte Schlichtstadt vor eine nie dagewesene Herausforderung. Regeln wurden nicht eingehalten, und jedes Mittel, die Einhaltung der Regeln durchzusetzen, zeigte keinerlei Wirkung. Am Nachmittag kam der Bürgermeister an den Ort des Geschehens und trat an den Zaun. Der Fremde begrüßte ihn und blieb auf seiner Seite der Abgrenzung stehen.

»Es scheint ein Problem zu geben, das mit mir zu tun hat«, sprach der Fremde. »In der Tat,« erwiderte der Bürgermeister, »Sie halten sich ohne Papiere in unserer Stadt auf und halten unrechtmäßig ein Grundstück besetzt.«
»Aber dieses Stück Land wird doch von niemandem benötigt.«
»Aber darum geht es doch gar nicht. Stellen Sie sich vor, jeder würde sich einfach nehmen, was er gerade braucht!«
»Worin liegt das Problem?«
»Persönlich habe ich gar kein Problem mit Ihnen. Wenn die Gerüchte wahr sind, muss ich Ihnen sogar danken, dass meine Familie und ich ebenso wie alle anderen Bürger der Stadt von der Mysteriösen Seuche geheilt sind.«
»Ja, das war im Tausch gegen das Essen, das mir der nette Herr gestern serviert hat.«

Der Bürgermeister schaute zum Einsatzleiter, der daraufhin mit den Schultern zuckte, und rieb sich anschließend einige Sekunden lang das Kinn. Dann wandte er sich wieder dem Fremden hinter dem Zaun zu.
»Ich würde mit Ihnen gerne weiter darüber plaudern, aber wie schon gesagt, es gibt ein Problem.«
»Gerade sagten Sie doch, Sie hätten gar kein Problem!«
»Das stimmt ja eigentlich auch«
»Es gibt also kein Problem und gleichzeitig gibt es doch ein Problem? Das verstehe ich nicht!«
»Das Problem ist: Wir haben Regeln! «
»Ach so, die Regeln sind das Problem?«
»Nein, die Regeln sind wichtig!«
»Erst gibt es ein Problem, dann wieder nicht; dann sind die Regeln ein Problem und dann sind sie es nicht. Ich höre immer nur „Problem“ und „Regeln“. Was wollen Sie mir sagen?«

»Aber das ist doch ganz klar: Sie können hier nicht sein!«
»Ich bin aber doch hier!«
»Endlich verstehen Sie mich! Sie können sich ein Grundstück zum Bewohnen kaufen oder mieten – natürlich nur, sofern dieses als Bauland ausgewiesen ist. Doch dazu benötigen Sie erst einmal Papiere!«
»Sie denken viel zu kompliziert: Diese Lichtung hier gehört doch niemandem! Sie ist Teil des Waldes.«
»Aber natürlich gehört der Wald jemandem, nämlich der Stadt!«
»Warum?«
»Weil die Stadt der Eigentümer dieses Waldes ist!«
»Und woher hat die Stadt den Wald bekommen?«
»Das hat historische Gründe!«
»Irgendwann muss irgendwer sich diesen Wald erstmals genommen haben. Mit welchem Recht?«
»Darum geht es jetzt nicht. Wichtig ist, dass Sie hier nicht bleiben können!«
»Warum nicht?«
»Weil Sie keine Papiere haben und dieses Grundstück nicht zum Wohnen nutzen dürfen.«

»Ich störe doch niemanden!«
»Aber Sie haben nicht die notwendigen Papiere!«
»Machen wir es so: Falls Sie diese Lichtung brauchen, gehe ich weg und suche mir einen anderen Platz. Solange ich hier lebe, erbringe ich im Austausch Gegenleistungen. Ich kann Ihre Bürger von Krankheiten heilen oder ihnen andere Wünsche erfüllen. Ihre Stadt kann fast alles von mir bekommen, was sie möchte!«
»Die kommunale Landnutzungsverordnung gibt das nicht her. Und selbst wenn: Sie müssten einen Pachtvertrag abschließen oder das Grundstück kaufen. Wie soll das gehen ohne Papiere? Als Käufer müssten Sie Grundsteuer zahlen. Außerdem müssen wir prüfen, ob Sie woanders über einen Erstwohnsitz verfügen und zweitwohnsitzsteuerpflichtig sind. So gerne ich Ihnen helfen würde, ich bin an die Regeln gebunden!«
»Wer hat diese Regeln denn aufgestellt?«
»Wir haben diese Regeln aufgestellt.«
»Diese Regeln scheinen der aktuellen Situation nicht angemessen. Ich habe eine Idee: Ersetzen Sie die Regeln einfach durch bessere!«
»Das geht nicht!«
»Warum nicht?«
»Weil, verstehen Sie bitte, es wäre gegen die Regeln, die Regeln einfach zu ändern!«
»So kommen wir nicht überein.«

Der Bürgermeister atmete tief ein, dann hörbar wieder aus und rieb sich noch einmal das Kinn.
»So leid es mir tut: Sie sind verpflichtet, dieses Grundstück zu räumen!«
»Sonst?«
»Sonst drohen Ihnen straf- und zivilrechtliche Konsequenzen.«
»Und das heißt?«
»Sie müssen zur Strafe Geld bezahlen und vielleicht ins Gefängnis. Also kooperieren Sie endlich! Bitte!«
»Geld habe ich nicht. Einsperren können Sie mich nicht, weil ich durch Wände gehen kann. Haben Sie nicht irgendein Argument, das mich überzeugt?«
»Ihr Handeln entspricht nicht den gültigen Regeln!«
»Es tut mir leid, aber Sie haben mir keinen nachvollziehbaren Grund geliefert, warum ich gehen sollte. Offenbar schade ich niemandem, wenn ich hier wohne, da diese Lichtung zurzeit von keinem anderen benötigt wird. Melden Sie sich wieder, falls sich an diesem Sachverhalt etwas ändern sollte. Das Gespräch ist beendet.«

Ausnahmezustand

In den folgenden Tagen versuchte die Polizei kontinuierlich und erfolglos, die öffentliche Ordnung wieder herzustellen und die Lichtung zu stürmen. Auch Spezialeinheiten gelang kein Zugriff. Nachdem die Zuständigkeiten für diese Angelegenheit innerhalb der nächsten Wochen von der Kommune an das Land und schließlich an den Bund weitergereicht worden waren, konnte über eine Änderung des Grundgesetzes ein Bundeswehreinsatz im Inneren erwirkt werden, der ebenfalls nicht die erwünschten Wirkungen zeigte. Als im Februar des folgenden Jahres der NATO-Bündnisfall festgestellt worden war, hatten internationale Truppen den Stadtwald innerhalb weniger Stunden in Schutt und Asche gelegt. Lediglich eine Lichtung, die als solche durch das Fehlen der umliegenden Bäume nicht mehr erkennbar war, blieb übrig. Der Zaun und die darin befindlichen Wiesen, Sträucher und Tümpel waren aber unversehrt.

Offenbar war dieser Einsatz erfolgreich, denn der Fremde war verschwunden und sollte fortan nie mehr in Schlichtstadt gesehen werden. Die Einsatzkräfte fanden einen Zettel mit folgender Notiz:

»Liebe Schlichtstädter, ich habe die Bedeutung dieser Lichtung für Ihre Stadt unterschätzt und bedaure die Umstände, die ich Ihnen durch meine Unwissenheit bereitet habe. Ich habe Ihre Stadt verlassen und werde mir nun eine andere Heimat suchen. «

Mit dem einsetzenden Frühling normalisierte sich die Lage in Schlichtstadt wieder. Leider traten auch neue Fälle der fast in Vergessenheit geratenen Mysteriösen Seuche auf, so dass innerhalb weniger Wochen fast jeder Bürger wieder unter den unangenehmen Symptomen der Erkrankung litt. Doch die Schlichtstädter hatten endlich ihre Ordnung zurück.

∗Ende∗



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