Seines Traumes Schmied

© Mario Rembold; alle Rechte vorbehalten
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Drei kräftige Männer versperrten den Weg, also drehte Jan um und lief in die andere Richtung weiter. Diese Leute waren gefährlich, er musste fort. Doch wie sehr er sich auch bemühte, einen Fuß vor den anderen zu setzen: er kam einfach nicht vorwärts. Ein Gefühl, als wate man durch Honig. Die Männer hatten ihn längst bemerkt und folgten ihm. Natürlich folgten sie ihm, und natürlich konnten die sich ganz normal bewegen. Jetzt war der Groschen gefallen, Jan hatte die Situation durchschaut. Er blieb stehen und wandte sich seinen Verfolgern zu. Ihre Gesichter waren kaum zu erkennen, erschienen leer und farblos. Der eine holte ein Messer aus seinem Mantel hervor und wollte gerade zustechen. Doch Jan blieb ruhig. „Willkommen in meiner Matrix“, rief er und streckte die rechte Hand aus. Kraft seiner Gedanken ließ er die Waffe des Gegners zerschmelzen. Die beiden anderen Männer waren verschwunden, und der Verbliebene wirkte jetzt klein und schwächlich. Es war Hauser. Mark Hauser, dieser fiese schleimige Kerl, der Jans Arbeitsleben zur Hölle machte. Doch in diesem Universum galten andere Gesetze. Jans Gesetze! „Knie nieder, Du Wurm!“, befahl er.

Jan genoss es, seine Träume selbst zu steuern. Das schwierigste am so genannten Klarträumen war, überhaupt erst einmal zu erkennen, dass man träumt. Doch Jan hatte einige typische Traummotive identifiziert, denen man im Wachsein niemals begegnete. Man will wegrennen, kommt aber nicht vom Fleck, man kann plötzlich fliegen, oder aber man kann die Buchstaben im Zeitungsartikel nicht zu sinnvollen Worten verbinden. Alles klare Anzeichen dafür, dass man gerade träumt. Nicht immer fällt es leicht, das zu akzeptieren, schließlich scheint doch alles so real. Aber mit etwas Übung schöpfte Jan Vertrauen in seine Urteilskraft und erlebte fortan die tollsten Dinge. Beispielsweise Sex im Fahrstuhl mit der Gleichstellungsbeauftragten. Dr. Leonie Bach war in der Tat der schärfste Feger im Haus. Doch niemand hätte es gewagt, ihr auch nur anzudeuten, dass sie gut aussah. Geschweige denn, sie zum Essen einzuladen. Denn wer wollte schon eine Abmahnung wegen sexueller Belästigung kassieren? Doch in seinen Träumen ließ Jan die schöne Kollegin irgendwann zusteigen. Die Türe schloss sich, der Aufzug fuhr weiter, Bach drückte die Stopptaste und die Dinge nahmen ihren Lauf.

Jans Leben im Wachzustand war weit weniger aufregend. Eine attraktive Frau ließ ihn bereits erröten, wenn er ihr bloß die Hand schütteln musste. Daher hielt er sich von Bach fern, zumal er mächtig verliebt in sie war und ohnehin kein klares Wort herausbekommen hätte. Konnte er es im Traum mit drei bewaffneten Männern aufnehmen, so traute er sich im echten Leben nicht mal, dieser unverschämten Rentnerin die Meinung zu sagen, die sich dauernd vordrängelte. Jedes Mal in seiner kurzen Mittagspause betrat sie die Bäckerei nach ihm, war aber vor ihm wieder draußen. Noch schlimmer war es im Büro. Möbus, sein Vorgesetzter, hatte den Angestellten verboten, ihre Überstunden zu dokumentieren. Nur ein einziges Mal hatte eine junge Praktikantin im Kreise der Kollegen auf den Tarifvertrag hingewiesen und irgendwas von Personalrat und „Dienst nach Vorschrift“ erzählt. Am nächsten Tag war sie verschwunden, dafür hielt Möbus am Morgen eine knappe Ansprache: „Dürft eh keine Überstunden machen, wenn das nicht durch den Fachbereichsleiter abgesegnet ist“, brummte er, „und wenn ich dem erzähle, was ihr für’n faules Pack seid, dann wird der Euch alle zwangsversetzen. Wenn hier noch mal einer meint, die Kollegen aufhetzen zu müssen, kann der sich gerne unserer Kaffeeträgerin anschließen und woanders nach neuen Herausforderungen suchen.“

Mark Hauser war der einzige in der Etage, der sich blendend mit Möbus verstand. Vielleicht lag es nicht zuletzt daran, dass er als Administrator Zugriff auf sämtliche Computer hatte. Und so war das von Jan in monatelanger Arbeit erstellte Betriebsausgaben-Minimierungskonzept ausgerechnet am Tag der Präsentation vom Server verschwunden und nicht mehr auffindbar. Wie durch ein Wunder konnte Hauser spontan einspringen. „Ist doch kein Problem, Herr Möbus, ich hatte mir da nebenher auch ein paar Gedanken gemacht, nur für alle Fälle.“ Kurioserweise zeigten Hausers Ausarbeitungen auffällige Schnittmengen mit Jans Konzept. „Ich kann mir auch nicht erklären, was da bei meinem eigentlich sehr zuverlässigen Kollegen schiefgelaufen ist“, hatte Hauser dann vor versammelter Mannschaft geheuchelt, „vielleicht war er mit der Aufgabe einfach überfordert.“ Und so wurde Hauser als Retter in der Not zum stellvertretenden Referenten befördert, während Jan freiwillig eine Schulung zum Thema „Datensichererung am Arbeitsrechner“ unter Aufopferung seiner Urlaubstage besuchen musste.

7:50 Uhr: „Scheisse, wie konnte ich den Wecker überhören?“. 7:55 Uhr: „Ich bekomme meine Tasche nicht gepackt; alles geht schief und die Zeit läuft davon.“ 8:00 Uhr: „In einer halben Stunde muss ich bei der großen Dienstbesprechung sein, und jetzt fällt auch noch die Bahn aus.“ 8:15 Uhr: „Verdammt, ich bin doch tatsächlich in die falsche Straßenbahn eingestiegen. Ausgerechnet heute - das ist ein Albtraum!“

Ein Albtraum? Natürlich, es war bloß ein Traum! Ganz typische Motive waren hier zu erkennen: Ein wichtiger Termin, die Zeit verrinnt wie feiner Sand, und alles geht schief! Seelenruhig stieg Jan daher an der nächsten Haltestelle aus, um den Rest des Weges zu Fuß zurückzulegen. Ein Mann, dessen Gesicht durch einen Strumpf verhüllt war, trat aus der Sparkassenfiliale heraus und zerrte eine Frau mit sich. Er trug einen Rucksack, aus dem Geldbündel herausragten und hielt eine Pistole in der Hand. Ein schrilles Geräusch ertönte - der Wecker würde doch nicht ausgerechnet jetzt klingeln, wo es gerade spannend wurde? Nein, die Polizeisirenen waren Teil des Traums. „Verschwindet von hier und gebt mir einen Fluchtwagen, sonst ist die Frau tot!“ Jan rannte auf den Maskierten zu und schlug ihm mit der Faust ins Gesicht. Verdammt, tat das weh! Die Klarträume wurden immer realistischer. „Das war aber riskant, junger Mann“, sprach ein Polizist. „Bleiben Sie bitte noch hier für die Zeugenaussage.“ Doch Jan dachte nicht daran und ging weiter. Jeden Moment konnte ihn der Wecker aus dem Geschehen herausreißen, und er wollte doch schließlich noch was von seinem Traum haben.

Mit dreißigminütiger Verspätung spazierte er in den Konferenzraum. Möbus, der vorn am Whiteboard stand, um die Zahlen seiner Abteilung zu präsentieren, tobte. „Was erlauben Sie sich! Schauen sie mal auf die Uhr!“ In der Tat war es erstaunlich, wie sehr sich in einem Traum die Zeitwahrnehmung verändern konnte. Jan hätte schwören können, wirklich so lange gelaufen zu sein. Dabei dauert eine REM-Schlaf-Phase meist nur wenige Minuten. Und da saß sie, Dr. Leonie Bach. Das Gebrüll des Chefs war plötzlich nur noch ein sanftes Hintergrundgeräusch. Jan beugte sich zu Bach und flüsterte ihr ins Ohr. „Leonie, weißt Du eigentlich, wie zauberhaft Du bist?“ Er lächelte sie an und genoss es, dass sie es nun war, die rot wurde. „Ich wünschte, das wäre nicht bloß ein Traum“, fügte er leise hinzu. Dann stellte er sich seinem Vorgesetzten entgegen. „Passen Sie auf, Möbus: Halten Sie Ihre Klappe und setzen Sie sich!“ Möbus war auf der Stelle still. Jan staunte, wie gut er das Klarträumen mittlerweile beherrschte. „Es ist schön, dass nicht nur unsere Abteilung hier sitzt, sondern auch alle Fachbereichsleiter und die Gleichstellungsbeauftragte“, Jan zwinkerte in Bachs Richtung.

„Erstens: Mark Hauser manipuliert regelmäßig unsere Dokumente, um sich selbst später in ein gutes Licht stellen zu können. Das musste ich mal loswerden! Ich schlage vor, dass man ihm einfach mal die Administratorrechte entzieht, damit ihr Euch von seiner Unfähigkeit überzeugen könnt. Mark, Du bist ein Arschloch! Zweitens: Unsere Praktikantin Julia wurde vor die Tür gesetzt, weil sie es gewagt hatte, sich darüber zu beschweren, dass wir alle hier unbezahlte Überstunden machen müssen. Dieser Rauswurf war sicher nicht rechtens!“ Jan ging zu Möbus und schüttete ihm eine Tasse kalten Kaffee über den Kopf. „Ich dachte mir, jetzt, wo Julia weg ist, kann ich diesen Job übernehmen und den Kaffee servieren.“

Unter dem Applaus des Publikums verließ Jan den Konferenzraum. Nach wenigen Metern wurde er unerwartet festgehalten. Geriet ihm der Traum etwa außer Kontrolle? Leonie Bach schlang ihre Arme um seinen Hals und hielt ihre Lippen zärtlich an sein Ohr. „Das ist kein Traum, du Trottel“, flüsterte sie. „Na dann erklär mir mal, wieso ich fliegen kann!“. Jan rannte auf das offene Fenster zu und breitete die Arme aus.

Als er die Augen öffnete, tat ihm alles weh. Jetzt war er definitiv wach, doch wie kam es, dass Leonie Bach neben seinem Bett saß und seine Hand hielt? Wo war er überhaupt? Der Arzt kam herein. „Sie haben Glück, dass Sie bei einem Sturz aus fünf Metern Höhe mit einer Gehirnerschütterung und leichten Prellungen davongekommen sind. Die Reporter habe ich erstmal abwimmeln können, aber die Polizei möchte gleich noch mit ihnen reden. Sie wissen schon, wegen der Geiselnahme, die Sie heute Morgen beendet haben.“

Ab heute, so nahm es sich Jan vor, wollte er nicht mehr seine Träume kontrollieren, sondern lieber sein Leben nach seinen Wünschen gestalten. „Darf ich Dich zum Abendessen einladen, Leonie?“ Jan merkte, wie er rot wurde, denn er wusste ja, dass er wach war. Trotzdem fühlte es sich gut an.

∗Ende∗



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